Wo beginnen mit Erzählen? Welche Superlative verwenden? Klaus Littmann hat im österreichischen Wörthersee-Stadion 7200 Quadratmeter Wald in einen neuen Kontext gestellt. Mit seinem Kunstprojekt «For Forest – Die ungebrochene Anziehungskraft der Natur» wird er nun gefeiert, nachdem er zuvor monatelang angefeindet worden war. Am Sonntag geht das Spektakel zu Ende. Die BaZ hat Tagebuch geführt.
Samstag, 7. September
Der Abend vor der Eröffnung. Klaus Littmann hat zahlreiche Gäste aus Basel ins Stadion geladen. Die Wetterprognosen verheissen wenig Gutes – Regen. Die Anspannung ist nicht nur beim Basler Kulturschaffenden enorm. Im VIP-Bereich des Wörthersee-Stadions lässt Littmann die Scheiben mit Papier abkleben. Um 20 Uhr beginnt das Nachtessen, um 21.45 Uhr lässt er das Flutlicht im Fussballtempel einschalten, danach reissen mehrere Mitarbeiter des «For Forest»- Teams das Papier weg. Der erste Blick der VIPs auf die 299 Bäume ist grandios. «Die Regentropfen verliehen den Blättern und Ästen im Flutlicht einen speziellen Glanz», erinnert sich Littmann, «einige meiner Gäste hatten Tränen in den Augen.» Wohl noch nie ist ein derart exklusiv zusammengestellter Mischwald schöner zu betrachten gewesen.
Sonntag, 8. September
Schlechtes Wetter, kühle Temperaturen. Die Kärntner Politprominenz ist gekommen, der Landeshauptmann, Clara Frühstück spielt Klavier, Oliver Welter singt. Klaus Littmann tritt vors Mikrofon und sagt: «Da habt ihr jetzt den Wald!» Aus dem Vorprogramm wird ein Nebenprogramm, das Hauptprogramm sind am Tag der offiziellen Eröffnung die Bäume. Endlich.
Über sechs Jahre lang hat Littmann auf diesen Moment hingearbeitet, unzählige Sitzungen geleitet, Klinken geputzt, Geld gesammelt, Personal rekrutiert, Probleme gelöst und Anfeindungen ertragen. Die FPÖ hetzte Teile der Bevölkerung auf, sie polterte mit dem Argument, dass in diesem Fussballstadion Steuergelder verbrannt würden. Alles Quatsch. Obwohl gegen Abend Regen einsetzt, pilgern bereits 7000 Menschen ins Stadion. «Da wurde mir klar, dass es richtig toll wird», sagt Littmann.
Montag, 9. September
Erster Schultag nach den Sommerferien in Kärnten. Littmanns Reflex: Da kommt doch keiner. Er wird eines Besseren belehrt, 2500 Gäste werden bis abends um 22 Uhr gezählt. So lange ist hier täglich offen.
Mittwoch, 11. September
9/11, was für ein Datum, was den weltweiten Terror betrifft, was für ein Datum für Klaus Littmann: Leonardo DiCaprio teilt auf seinem Instagram-Account Bilder von den Bäumen in Klagenfurt. Der Eintrag des Hollywoodstars generiert 766 348 Likes und dazu 5230 Kommentare. DiCaprio ist bekannt dafür, dass er sich auf seinen sozialen Kanälen immer wieder für Umwelt- und Tierschutz einsetzt. Der Schauspieler ist längst nicht der Einzige, der realisiert hat, welch hohe Wellen das grösste Kunstprojekt im öffentlichen Raum Österreichs schlägt. Sogar die britische «Times» und der «Guardian» haben Platz freigeschaufelt, Magazine aus China, den USA und Neuseeland berichten mit Reportern vor Ort.
Freitag, 20. September
Heute haben sich auch eintausend Schüler aus Klagenfurt angemeldet. Die Gymnasiasten zelebrieren den «Earth»-Song von Michael Jackson, zwei der Teenager haben einen Setzling von zu Hause mitgebracht: «Das soll der 300. Baum im Stadion sein!» Später sind im Wörthersee-Tempel Alphornklänge zu vernehmen; der gute Mann ist mit seinem Instrument extra aus Basel angereist. «Überhaupt machen viele Basler einen Abstecher hierher», erzählt Littmann, «viele Besucher verbinden den Trip mit der Biennale in Venedig.»
Samstag, 21. September
Der Basler Kulturunternehmer übergibt einer Familie aus Wolfsberg eine Grafik samt persönlicher Unterschrift – einer von ihnen ist der 60 000. Besucher. «Diese Zahl bedeutet mir viel», sagt Littmann, «60 000 bedeutet, dass wir bereits zweimal das ganze Stadion gefüllt haben.» Und dies nach nur zwei Wochen. Der Aufwand rund um die Ausstellung ist sehr gross, zwischen 16 und 18 Personen bewachen täglich das Areal bis in die Nacht. Zehn Kilometer Wasserleitungen sorgen dafür, dass das Grüngut perfekt bewässert wird, drei Gärtner pflegen regelmässig die Büsche. Vor dem Stadion werden die Besucher an diversen Kiosken kulinarisch verpflegt. Würde er auch nur fünf Euro Eintritt verlangen – Littmann wäre Ende Oktober ein gemachter Mann. Doch das würde dem Konzept widersprechen.
Dienstag, 24. September
«Wie läufts im Wald?», ist eine der ersten Fragen, die Klaus Littmann an diesem Morgen gestellt bekommt. Es ist noch nicht einmal acht Uhr, das ORF-Frühstücksfernsehen sendet bereits live. «Im Wald läufts super», antwortet der Basler kurz und bündig. Das Satirikerduo Stermann & Grissemann, in Österreich seit Jahren Kult, hat sich ebenfalls angekündigt, CNN liefert Bilder. Das mediale Echo ist überragend.
«Ich kann kaum mehr auf die Strasse», sagt Klaus Littmann und lacht. Aus der anfänglichen Ablehnung in Kärnten ist Euphorie geworden. «Die Bäume packen die Leute.» Der Basler hat es geschafft, in Klagenfurt ein Mahnmal zu schaffen, das um die Welt geht. Der Baum als Symbol des Lebens, der Wald als grüne Lunge eines Planeten, der in furchterregendem Tempo zerstört wird. Viele Leute entschuldigen sich mittlerweile bei Littmann für den heiligen Zorn, der ihm zu Beginn des Projekts in Österreich um die Ohren geschlagen war.
Dienstag, 1. Oktober
Abends um 21 Uhr gibt sich das Wiener Burgtheater die Ehre. Der nächste kulturelle Ritterschlag. «Die Hermannsschlacht» ist angesagt – eine von unzähligen Veranstaltungen im Rahmen von «For Forest». Bald ist Halbzeit in Klagenfurt, und heute wurde der 100 000. Besucher begrüsst; sie ist kein Erfolg, sie ist ein Meilenstein in Littmanns Leben, unvergesslich, aufwühlend, fordernd, schön.
«Das ganze Gastspiel des Burgtheaters war grossartig», sagt der Basler. Die Darsteller standen zwischen den Bäumen, getaucht in blaues Licht, sie rezitierten Texte aus der «Hermannsschlacht». Die 2500 begeisterten Gäste auf der Tribüne sahen eine Art Hörspiel, Licht und Ton in dieser begrünten Ambiance waren einzigartig.
Samstag, 19. Oktober
Schon 3572 Artikel sind weltweit über den Mischwald erschienen, schreibt die «Krone». Der Gegenwert dieser Medienpräsenz liegt bei rund 15 Millionen Franken, ein sagenhafter Wert. Und auch heute brummts wieder auf allen Kanälen, die «Fridays for Future»-Bewegung gastiert im Stadion. Um 14 Uhr laufen die unzähligen jungen Menschen vom Bahnhof ab, gegen 16 Uhr kommen sie im Stadion an. Mit Plakaten, Megafonen und deutlichen Botschaften: «Es gibt keinen Plan B für unseren Planeten!» Die Schüler legen aber auch Zahlen und Fakten vor und fordern, dass auf der ganzen Welt massiv aufgeforstet werden müsse, um den Klimawandel zu stoppen. Der Tag endet mit einer riesigen Menschenkette, die unten auf dem Rasen steht und den Stadionwald umfasst. Klaus Littmann hat den Zugang auf die grüne Fläche unten ausnahmsweise bewilligt.
Dienstag, 22. Oktober
Eine neue Frage beschäftigt Klagenfurt: Wohin kommen denn nun die Bäume nach der Installation? Die Landeshauptstadt in Kärnten hat bereits vor Monaten mehrere städtische Grundstücke angeboten, doch nicht alle kommen infrage, an gewissen Stellen ist der Boden zu sumpfig. «Wir wollen den Wald eins zu eins ausserhalb des Stadions verpflanzen», betont Littmann noch einmal, «und dort sollen sie noch für ein paar Hundert Jahre stehen.»
Natürlich kommt sofort wieder die Politik ins Spiel, doch diesmal ist der Ton ein ganz anderer als noch vor ein paar Monaten. Alle wollen helfen, alle wollen gewusst haben, dass der Stadionwald schon immer eine grossartige Sache war. Auch die Stadionverwaltung möchte nicht, dass die Bäume das Bundesland Kärnten verlassen, ebenso Klaus Littmann. Eine Option: Gleich vor der Wörthersee-Arena gibt es ein Kleinstadion, welches den 300 Bäumen Platz bieten würde. Möglich, dass das Grünzeug im Frühling 2020 dort eingepflanzt wird. Als Übergangslösung bietet sich eine Grossgärtnerei ausserhalb Klagenfurts an.
Sonntag, 27. Oktober
Schluss, aus, fertig Wald. Morgen Sonntag ist der letzte Tag, danach werden die 300 Bäume abtransportiert. Exakt 50 Tage hat die Kunstintervention gedauert, fast 200 000 Besucherinnen und Besucher sind gekommen, eine 50-jährige Besucherin hat sich sogar ein Stadionwald-Tattoo gestochen und bei aller Euphorie, bei allem Lob und Eindrücken: Littmann dürfte auch ein bisschen froh sein, dass alles vorbei ist. Das Ganze war zwar bäumig, aber eben auch ein Kraftakt. Auf einen Moment freut er sich aber noch speziell: «Am Sonntagabend schalten wir um 22 Uhr das Licht aus. Das wird bestimmt sehr emotional.»
Nach dem Ende ist noch ein Abstecher an die Biennale in Venedig geplant, irgendwann gehts retour nach Basel. Zurück bleiben die unzähligen Erinnerungen an ein Projekt, das um die Welt gegangen ist. In der letzten November-Woche wird Littmann erneut in Klagenfurt sein; die neue Kultur- und Förderstiftung in Kärnten hat ihn für die nächsten drei Jahre ins Kuratorium gewählt. «Auch das wird wieder spannend», ist Klaus Littmann überzeugt.
Basler Zeitung, 26. Oktober 2019, Marcel Rohr
Tränen, Proteste, ein Alphorn und DiCaprio auf Instagram