An alten Wunden soll man nicht kratzen, heißt es. Der Kärntner Schriftsteller Josef Winkler tat es dennoch. Klagenfurt besitzt bis heute keine eigene Stadtbibliothek, ätzte er heuer zum 500Jahr-Jubiläum der Wörthersee-Metropole mit der ewigen Ebbe in der Stadtkasse. Wohl aber besitze das 100.000-EinwohnerStädtchen, ein Stadion mit 33.000 Plätzen. Das sei so, zupfte Festredner Winkler am schmerzenden Narbengewebe, wie wenn „die Zwei-Millionen-Stadt Wien ein Stadion mit 700.000 Sitzplätzen oder zehn Stadien mit jeweils 70.000 Sitzplätzen gebaut hätte“.
100 Millionen Euro hat der Bau des Fußballstadions für die Europameisterschaft 2008 verschlungen. Ein schmachvolles Vermächtnis des verstorbenen Landeshauptmanns Jörg Haider, dessen Hausbank, die Hypo Alpe Adria, dem Stadion bis zur eigenen Pleite sogar den Namen lieh. Jetzt spielt dort vor gähnend leeren Rängen die Austria Klagenfurt – als Regionalligist. Noch so eine Demütigung.
Und jetzt soll ausgerechnet Kunst dieses Zeugnis des Größenwahns mit Publikum füllen? Ein ganzer Wald dort Wurzeln schlagen, wo sonst zweimal Elf dem ledernen Rund nachjagen?
„Sicher nicht“, hörte der Schweizer Klaus Littmann, als er vor rund vier Jahren das erste Mal nach Klagenfurt kam. Ein Künstler hatte ihm von dem Politikum erzählt. Vor Ort wollte er sich nun davon überzeugen, dass das Wörthersee-Stadion genau jener Ort ist, nach dem er seit 30 Jahren gesucht hatte. „Ein Kunstprojekt? Hier findet nur Sport statt“, lautete die schnöde Abfuhr. Trotz Anmeldung ließ man Littman vor der Tür stehen.
„Wie sind denn die drauf?“, fragte sich der 1951 geborene Basler. Sein Ehrgeiz war geweckt: „Okay, jetzt werden dicke Bretter gebohrt.“Klaus Littmann, der in den 1970ern bei Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte, hat schon riesige Kulturprojekte im öffentlichen Raum gestemmt. Auffallend oft waren es solche, die Räume vorübergehend in etwas völlig anderes verwandelten. Er organisierte einen temporären Skulpturenpark in einem Basler Park, war Mastermind hinter dem Projekt „Canal Street“, einer täuschend echten Straße unter einem Fabrikdach, eine Art potemkinsches Dorf im kleinen Arlesheim.
Littmann hatte die Finger im Spiel, als der Japaner Tazro Niscino 2003 die Wetterfahne über dem Basler Münster mit einem Wohnzimmer umbaute, ganze 37 Meter über dem Boden. Und noch viel früher, 1990, funktionierte der belgische Bildhauer Guillaume Bijl die Galerie Littmanns in einen Supermarkt um.
Als Galerist scheiterte er. „Alles, was ich mache, ist nicht kommerziell. Ich bin kein Kunsthändler. Dafür habe ich absolut null Begabung.“Auch Kurator sei er nicht. Das wäre „so was wie ein DJ der Kunstszene“.
Talent hat Littmann hingegen dafür, „Dinge zu verkaufen, die es noch nicht gibt“. Er ist ein Vermittler zwischen Ideen und ihren Ermöglichern. Von Sponsoren redet er prinzipiell nicht. Der Begriff passe für den Sport, sicher nicht für Kulturprojekte.
Im Herbst 2019 soll nun das Wörthersee-Stadion zwei Monate lang verwandelt werden. Das 2,2 Millionen Euro teure Projekt wird frei finanziert, etwa über Baumpatenschaften. Klagenfurt stellt einzig das Stadion kostenfrei zur Verfügung. Wie weit die Finanzierung gediehen ist, verrät er nicht. „Ich sag nur eines, es findet statt.“
Im Stadium wird er eine alte Bildidee des Tiroler Künstlers Max Peintner in die Realität umsetzen. Die ungebrochene Anziehungskraft der Natur heißt Peintners Zeichnung aus den frühen 1970ern. Sie entwirft ein dystopisches Zukunftsbild; der Wald wird zum raren Schauspiel, das man nur noch im Stadion bewundern kann. In Klagenfurt kann man das Bild durchaus anders interpretieren: Die Natur erobert den Raum zurück. In Brasilien ist das bereits Realität. Der Urwald überwu- chert dort ausgediente Stadien. Eine Utopie für die „nicht zu 100 Prozent ausgelastete“Klagenfurter Arena?
Geboren wurde die Idee zum Projekt For Forest übrigens 1993 in Wien. Auf Einladung von Edek Bartz gastierte im heute nicht mehr existenten Kunstraum Remise in der Engerthstraße Littmanns Ausstellung Fußball in der Vitrine, eine Hommage an das Massenphänomen. Damals zeigte ihm Bartz Peintners Stadionvision. Der vollends begeisterte Littmann wollte die Zeichnung kaufen, aber die gehörte längst einem amerikanischen Sammler. „Das ist so eine unglaubliche Bildidee, die müsste man real werden lassen“, sagte er zu Peintner beim Atelierbesuch. Der klopfte ihm mitleidig auf die Schulter.
Für For Forest arbeitet Littmann zum ersten Mal mit lebendem Material. Rund 200 ausgewachsene Bäume von zehn bis 14 Meter Höhe, lokal typischer Mischwald mit Buchen und Fichten, werden für den Wald ins Stadion verpflanzt. Solche Großbaumverpflanzungen sind nichts Ungewöhnliches. Überall auf der Welt stellen sich Unternehmen große Bäume vor die neuen Firmenzentralen. Die Pflanzen kommen aus Baumschulen. Den Stress des immer wieder Neu-vertopft-Werdens sind sie gewöhnt. In Klagenfurt werden die Bäume allerdings erst im November in Wurzelsäcke umgepflanzt; im Sommer war heuer die Hitze zu groß. Einen „Missbrauch“der Bäume ortete noch im Juli der FPÖ-Stadtrat Wolfgang Germ. Die Sorge um die Baumgesundheit war der unglücklichste Versuch der Freiheitlichen, das ungeliebte Projekt, das bereits den Senat passiert hatte, doch noch zu verhindern. Verlieren die Bäume nicht ihre Blätter im Herbst? Was, wenn die Austria Klagenfurt doch noch in die erste Liga aufsteigt? Torpediert haben die Blauen ihren Feldzug schließlich selbst: Gemeindesratskollege Johann Rebernig wollte die „Blockade“des Stadions und die „Steuergeldverschwendung“verhindern und daher alles auf den Neuen Platz verlegen. Da lenkte plötzlich auch Germ ein, obwohl er kurz zuvor noch eine Unterschriftenaktion gestartet hatte. Die Ortsspezifik des Projekts ignorierend, freute er sich über die Idee einer „Innenstadtbelebung“. Grundsätzlich besäße das Unterfangen ja „Charme“. „Das Projekt steht unter einem guten Stern“, sagt Littmann erstaunenswerterweise. Er hätte nicht so schnell mit dem Umfallen der FPÖ gerechnet. Wenn man in den öffentlichen Raum geht, weiß er, muss man den Gegner nicht suchen, sie kommen von ganz allein. Man müsse sich im Vorfeld genau überlegen, welche Angriffsfläche man bietet. Wenn er nicht wüsste, was mit dem Wald nach dem Projekt passiert, wäre das die „Killerfrage“. Aber: Die Skulptur Wald bleibe Skulptur Wald. Ganz nahe beim Stadion werden die Bäume wieder eingepflanzt. „Dort stehen sie hoffentlich ein paar Hundert Jahre.“Dagegen sind die vier Jahre Vorarbeit, in denen es für Littmann drei Schritte vor und zwei zurück ging, eigentlich nichts. Es galt, Überzeugungsarbeit zu leisten und technische Probleme zu lösen. Rasen und Rasenheizung werden nicht beschädigt, die Bäume bekommen eine Unterkonstruktion, der die Lasten verteilt. Mit im Boot ist auch Enzo Enea. Der in der ganzen Welt tätige Landschaftsarchitekt stellt sein Know-how zur Verfügung. Er komponiert das Bild der Bäume, weiß um die unterschiedliche Herbstfärbung und wann die Blätter fallen. Der Wald im Stadion wird viele nach Klagenfurt locken, ist Littmann überzeugt: „ein Bild, das um die Welt gehen wird“.