Zugegeben, ich bin Insasse keiner Heil-, aber einer Bildungsanstalt. Ich bin Kunstlehrer an einem Klagenfurter Sportgymnasium. Der Bildungsauftrag zur ästhetischen Erziehung des jungen Menschen hat in Österreich Verfassungsrang. Diesen Bildungsauftrag zu erfüllen, ihn für die nächste Generation von Fußball- und Eishockeystars, die jetzt noch in der Pubertät sind, mit Relevanz zu beseelen, fällt auch nach jahrzehntelanger Berufserfahrung nicht immer ganz leicht. So schön und nachhaltig es auch wäre, man hat in meiner Branche leider nicht die Ressourcen mit jeder seiner Klassen eine Kunstexkursion zur Biennale nach Venedig zu unternehmen. Umso dankbarer bin ich all jenen, die zur Realisierung des For-Forest-Projektes bei uns in Klagenfurt beigetragen haben, nicht zuletzt auch denen, die sich in stilvoller Art und Weise gegen diese Intervention im öffentlichen Raum positioniert haben. Dieses Kräftespiel der Widersprüche ist der fruchtbare Boden für jene geistige Nahrungsquelle, die wir Kunsterzieher in den vergangenen zwei Monaten anzapfen und aus der wir schöpfen durften. Als ARGE-Leiter für Bildnerische Erziehung in Kärnten erlaube ich mir an dieser Stelle zu danken, und zwar im Namen der Kunstpädagoginnen und Kunstpädagogen Kärntens und auch im Namen unserer Schülerinnen und Schüler. Dieser Dank gilt ganz konkret den drei Künstlerpersönlichkeiten Klaus Littmann, Enzo Enea und Max Peintner.
Mitte September habe ich eine Zugreise nach Hamburg unternommen. Am Rückweg und unterwegs zu meinem Bahnsteig bin ich vor einer Spielzeugauslade stehen geblieben und kurz darauf wurden mir zwei wunderschöne handgemachte Stofftiere, ein Auerhahn und ein Lindwurm, von einer weißhaarigen Dame mit norddeutschem Akzent und unendlich gutmütigen Augen in Geschenkpapier verpackt. Auf ihre Frage, wohin meine Reise denn gehe, erklärte ich: „Nach Klagenfurt“. Und als ich glaubte, die Dame belehren zu müssen, wo Klagenfurt liegt, gab sie mir sofort zu verstehen, dass das nicht nötig sei. Der Satz, den sie mir nun schenken sollte, hat für mich mittlerweile persönlichen Verfassungsrang: „Klagenfurt ist ja dort, wo die Bäume Fußball spielen.“
Die 14-stündige Zugfahrt danach nützte ich zum Planen meines Unterrichts. Und seit diesem Sonntag im Zug der Deutschen Bahn und dem 27. Oktober 2019 war ich vierzehn Mal im Klagenfurter Wörthersee-Stadion, bei Tag, bei Nacht, alleine, mit meiner Frau, mit meinen Kindern, mit Freunden, aber meistens mit meinen Schülerinnen und Schülern. Ich bin kein Missionar. Es ist nicht mein Ziel, anderen mein Geschmacksurteil aufzudrängen, aber als Pädagoge und Kunstliebhaber ist es mein Ziel, anderen begreifbar zu machen, warum „For-Forest“ ein gutes Kunstwerk ist – und damit meine ich „gut“ im wahrsten Sinn des Wortes „gut“. For-Forest ist gute Kunst, weil es mehrere meiner Sinne gleichzeitig in besonderer Weise reizt. For-Forest ist gute Kunst, weil es mich staunen lässt. For-Forest ist gute Kunst, weil es nicht meiner Sehgewohnheit entspricht, weil hier etwas Gewöhnliches (eine Mannschaft von Bäumen) aus seinem gewohnten Umfeld heraus in einen neuen Kontext gestellt wird. For-Forest ist gute Kunst, weil es mir einen Perspektivenwechsel ermöglicht. For-Forest ist gute Kunst, weil es die Betrachter provoziert, weil es polarisiert und weil es irritiert. For-Forest ist gute Kunst, weil es über das Offenkundige, das es ist, hinausweist und eine Botschaft enthält, welche Botschaft das auch immer sein mag. For-Forest ist gute Kunst, weil es zur Bewusstseinserweiterung beiträgt. For-Forest ist gute Kunst, weil es im Grunde genommen kein Mensch braucht, weil es hemmungslos zweckfrei sein darf. For-Forest ist gute Kunst, weil es mich innerlich berührt, weil es Gefühle in mir erregt, Erinnerungen weckt, Assoziationen erzeugt und Gedanken hervorruft. For-Forest ist gute Kunst, weil es mich letztlich zum Denken bewegt.
Die regionale Polemik zum Gastspiel dieses gewaltigen Kunstwerkes, dessen Weltrang heute schon unbestritten ist, hat sich letztlich darauf konzentriert, Kunst gegen Sport auszuspielen. Zugegeben, das mach ich auch nicht ungern. So wie Max Peintners grafische Arbeit „Die ungebrochene Anziehungskraft der Natur“ seit dreißig Jahren in den Schulbüchern nicht nur des deutschen Sprachraumes seinen Fixplatz hat, wird man von Klaus Littmanns Klagenfurter Stadion-Landart auch in dreißig Jahren noch sprechen. Ich persönlich glaube jedoch nicht, dass wir es versäumt haben, in Klagenfurt im Herbst 2019 irgendein Fußballspiel abzuhalten, von dem in dreißig Jahren noch irgendjemand geredet hätte. Kunst und Sport sind keine Widersprüche. In beiden Aspekten spiegeln sich Menschenrechte wider, die sich nicht ausschließen müssen. Sie können sich gegenseitig befruchten. Genau das durfte ich, als jemand, der aus Steuermitteln dafür bezahlt wird, dass er u.a. mit jungen Sportlerinnen und Sportlern über Kunst und ihre Aufgaben diskutiert, in den vergangenen zwei Monaten erleben. Somit bin ich auch jenem hypervisionären Landesfürsten dankbar, der im Jahr 2008 seinem viel zu kleinem Herrschaftsbereich dieses architektonische Riesenmahnmal gegen (die eigene) politische Hybris verpasst hat, für dessen Erhaltung ich als Steuerzahler heute noch meinen Beitrag leiste. Dank For-Forest mache ich das mittlerweile gern, auch wenn ich mir in Zukunft wahrscheinlich kein Fußballspiel dort anschauen werde.
Hugo Brandner
Der Autor ist Kunstpädagoge am Lerchenfeldgymnasium in Klagenfurt