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Eine Oase der Zeit

Das «Real Fiction Cinema» von Klaus Littmann startet zur grossen China-Tournee

Von Boris Gygax, Shanghai

Da war dieses alte chinesische Ehepaar, Falten im Gesicht, wohl über 80, vielleicht sogar 90 Jahre alt. Mit halb zugekniffenen Augen sassen die beiden in einem der Container des «Real Fiction Cinema», der wie ein Kino eingerichtet ist. Sie starrten nicht auf eine Leinwand, sondern durch ein offenes Fenster in die Strassen von Dongguan. Zusammen beobachteten sie konzentriert den Alltag.

«Diese Szene hat sich in meinem Gedächtnis eingebrannt, sie verkörpert den Sinn des Projekts», sagt der Basler Kurator Klaus Littmann rückblickend, während er auf seinem Handy das Bild dazu sucht. Das Paar habe ihm gezeigt, dass dieses Projekt auch in China funktioniert und die Idee von den Chinesen verstanden wird: sich hinsetzen, sich Zeit lassen und das, was man ansonsten in der Hektik des Alltags routiniert übersieht, bewusst wahrnehmen. Bewusst wahrnehmen in einer Stadt, die wahrlich nicht für die Kunst, sondern eher für die Produktion von Konsumgütern steht, für Arbeit und Prostitution.

Der Test in Dongguan

Dongguan war letztes Jahr der Test für das «Real Fiction Cinema». Nach diesem «unglaublichen Erfolg» mit über 200 000 Besuchern, den Littmann auch als «Irrsinn» bezeichnet, startete diese Woche in Shanghai die grosse China- Tournee: Zehn Städte sollen in den nächsten Jahren Schauplatz ihres eigenen Alltags werden. «Das Interesse nach solchen Projekten ist gross», sagt der Basler.

Dass sich auch Andreas Spillmann, Direktor des Schweizerischen Nationalmuseums, die Ehre nicht nehmen liess, persönlich der Eröffnungsfeier auf dem Dach des Shanghai Contemporary Art Museum (Power Station of Art) beizuwohnen, überrascht im ersten Moment: Sein Haus ist ein historisches Museum, das Projekt jedoch unmittelbare Gegenwart. «Mit anderen Worten: Das ‹Real Fiction Cinema› und Museen sind das pure Gegenteil», so Spillmann. Trotzdem unterstützte er Littmanns Projekt tatkräftig, als es in der Schweiz Premiere feierte: Ein Container wurde direkt beim Eingang des Landesmuseums platziert. «Damals in Zürich haben diese Gegensätze interessiert und zusammengepasst. Ich bin nun überzeugt, dass auch jetzt wieder das ‹Real Fiction Cinema› und neuerdings die Power Station of Art eine unerwartete Übereinstimmung finden werden.»

Dieses Mal werden Kurator Littmann und der niederländische Künstler Job Koelewijn von chinesischen Partnern unterstützt, die der Basler unter anderem dank seiner früheren Kunstprojekte in China kennengelernt hat. Die Realisierung in Shanghai war gleichwohl eine Geduldsprobe. Ein Kunstprojekt im öffentlichen Raum funktioniert auch – oder vor allem – in China nicht ohne Bewilligungen, nicht ohne Spiessrutenlauf durch die Ämter der Stadt-, Provinz- und Landesbehörden.

Zwei Mal reiste Littmann nach Shanghai, um sich für die drei geplanten Kinostandorte neun denkbare auszusuchen. Beide Male wurden alle neun ohne Begründung abgelehnt. Beim dritten Mal klappte es. «Ich vermute, das Engagement des Shanghai Contemporary Art Museum als einer namhaften Institution brachte schliesslich den Erfolg», so der Kurator. Organisiert wird die Tournee auch von der Kunstagentur ArtsRouge International, die den Basler mit seinem Projekt nach China holte.

Den Erfolg in China erklärt sich Littmann unter anderem mit dem «Hunger nach Kunst». Auch passt das Projekt gut nach China, weil die Chinesen im Gegensatz zur westlichen Kultur eine sehr unverkrampfte Beziehung zum öffentlichen Raum pflegen. Noch immer gibt es in Shanghai Menschen, die in ihrer Behausung keine Nasszelle haben und sich in Unterhosen auf der Strasse waschen.

Im öffentlichen Raum

Wenn es im Sommer besonders heiss oder im Winter besonders kalt ist, verlegen diejenigen, die sich weder Klima­anlage noch Heizung leisten können, ihr Wohnzimmer kurzerhand in die eben gekühlten oder beheizten U-Bahn-Stationen. Der öffentliche Raum wird zum Wohnraum. «Oder am Abend treffen sich vor allem die älteren Menschen in den Parks, um zu tanzen», ergänzt Littmann. Gerade in einer so hektischen und schnelllebigen Metropole wird das Container-Kino zu einer Art Oase der Zeit.

Film im Kopf

Das Publikum des «Real Fiction Cinema» wird auch akustisch begleitet. Job Koelewijn sass tagelang an den Schauorten und notierte sich die Alltagsszenen. Mit diesen Eindrücken und in Zusammenarbeit mit einem chinesischen Professor für Musik stellte er den Soundtrack aus bekannter westlicher und asiatischer Filmmusik zusammen. «Musik fördert Emotionen. Jeder kann sich darum seinen eigenen Film im Kopf ausdenken, obwohl alle das gleiche Bild sehen», so Littmann. Vielleicht ist auch das ein Grund für den breiten Erfolg: Man muss für das «Real Fiction Cinema» kein Kunstverständnis mitbringen.

Mit der China-Tournee verpflichten sich Klaus Littmann und sein Team langfristig. Nur zwei bis drei Standorte sind pro Jahr realisierbar, demnach wird ihn das Projekt weitere drei bis vier Jahre beschäftigen. Bis Ende November dieses Jahres bleiben die drei Kinos in Shanghai. Welche Städte dann an der Reihe sind, ist noch offen. Littmanns Ziel ist es aber, in alle Landesteile vorzustossen.

Basler Zeitung, 30.9.2016

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